Medea

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Eva Vogel Rezitation - Medea

Lena Sutor-Wernich Mezzosopran

FestpielOrchester Göttingen

George Petrou Musikalische Leitung

Händel Ouverture Teseo (HWV 9)

Koumendakis Five more steps until you fall asleep

Kouroupos Lamento - Concerto grosso

Benda Medea

Als Georg Friedrich Händel 1759 starb, war die Gattung der Opera seria, die er einige Jahrzehnte zuvor zu so großer Blüte geführt hatte, in einer tiefen Krise angekommen. Kritisiert wurde die Unwahrscheinlichkeit der häufig sehr verwickelten Handlung, kritisiert wurden die große Länge wie auch die stereotype Folge von Rezitativen und nur musikalisch, nicht aber dramaturgisch sinnvollen Arien, kritisiert wurde auch die überreiche Ausstattung, die lediglich das eine Spektakel mit einem anderen zu überbieten suchte. Die Oper war letztlich auch schlicht ein zu teures Vergnügen geworden.

Händel selbst hatte sich, teils dem Interesse seines Publikums folgend, teils dieses Interesse selber leitend, seit den 1740er-Jahren auf das englische Oratorium konzentriert, das einigen dieser Einwände erfolgreich begegnete, den Kritikern auf dem europäischen Kontinent aber eigenartigerweise recht lange unbekannt blieb. Und so waren es Komponisten wie Christoph Willibald Gluck, die nach Lösungen der Probleme innerhalb der Gattung Oper selber suchten: mit Orfeo ed Euridice etwa, einer übersichtlichen Oper von rund zwei Stunden Aufführungsdauer mit lediglich zwei Hauptrollen und einer kleinen Nebenrolle. Damit vollbrachte Gluck das Kunststück, sowohl das anspruchsvolle Wiener Publikum in italienischer Sprache wie auch das ebenso anspruchsvolle Pariser Publikum in französischer Sprache zu begeistern.

Zu den ungezählten weiteren Reformbestrebungen der 1760er- bis 1780er-Jahre, die kaum einmal über eine kurze Blütezeit hinaus Bestand hatten, zählt auch das Melodram. Dabei handelt es sich um die musikbegleitete Deklamation einer Hauptperson, die das Publikum in monologischer Form an ihrer inneren Zerrissenheit angesichts einer existenziell entscheidenden Situation teilhaben lässt. Der dramaturgischen Wahrscheinlichkeit entsprechend, geschieht dies nicht in geschlossenen musikalischen Formen, sondern in aneinander gereihten, eher kurz gehaltenen musikalischen Kommentaren. Eher selten begleitet die Musik die Deklamation, zumeist füllt sie die Pausen der Rede, in denen die Hauptperson ihre widerstreitenden Gedanken zu ordnen sucht (hier an Hamlets »Sein oder nicht Sein« zu denken, trifft das Wesentliche exakt). Nebenrollen können dem Monolog zu noch mehr dramaturgischer Glaubwürdigkeit verhelfen, etwa indem die Personen, die die Grübelei der Hauptperson ausgelöst haben, selber in Erscheinung treten. Als Gattung blieb das Melodram durchaus nicht folgenlos: Im zweiten Akt von Ludwig van Beethovens Oper Fidelio gibt es ein kurzes Melodram von Leonore und Rocco, und insbesondere Arnold Schönberg erkannte im frühen 20. Jahrhundert noch einmal das große expressionistische Potenzial dieser Gattung. Sein Monodram Erwartung nach einem Libretto von Marie Pappenheim katapultierte die Techniken des Melodrams aus dem 18. Jahrhundert in das Musiktheater der Moderne.

Zu den Kritikpunkten, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer wieder gegen die Opera seria angeführt wurden, gehörte auch die Stoffwahl. Komplexe historische Stoffe aus Antike und Mittelalter hielten dem Anspruch des Publikums nicht mehr stand. Favorisiert wurden vielmehr, passend zum Motto der diesjährigen Händel-Festspiele, Schlüsselszenen aus Erzählungen der antiken Mythologie. So wird in Glucks Orfeo ed Euridice nicht etwa die vollständige Fabel erzählt, sondern nur jener reduzierte Ausschnitt von Orfeos gescheitertem Versuch, die geliebte Euridice aus der Unterwelt zu führen. Der Rest der Handlung konnte getrost als bekannt vorausgesetzt werden.

All diese Aspekte kommen auch in Georg Anton Bendas (1722–1795) Melodram Medea zum Tragen. Der Stoff zu diesem Melodram weist weit in die griechische Antike zurück. Die wohl bekannteste Fassung stammt von Euripides. Verschiedene Autoren sowohl vor als nach ihm erzählen die Geschichte aber in unterschiedlicher, teils epischer, teils dramatischer Weise. Zusammenfassen lässt sie sich wie folgt: Medea ist die Tochter des Königs Aietes von Kolchis. Aietes ist Bewacher des Goldenen Vlieses, das von den Argonauten unter der Führung Jasons geraubt werden soll. Medea verliebt sich in Jason, verhilft ihm zum Goldenen Vlies, flieht zusammen mit den Argonauten und heiratet Jason. Das Paar lebt schließlich mit seinen beiden Söhnen in Korinth. Dort jedoch verstößt Jason seine Frau, um Krëusa, die Tochter des Königs Kreon von Korinth zu heiraten. Aus Rache tötet Medea nun Krëusa, Jason und ihre beiden Söhne und flieht nach Athen.

Friedrich Wilhelm Gotter (1746–1797), einer der Begründer und Herausgeber des Göttinger Musenalmanachs, hat diesen antiken Stoff in seinem Melodram radikal konzentriert. Man folgt im Wesentlichen den bohrenden Gedanken der von Jason verstoßenen Protagonistin: zwischen abgrundtiefer Verletztheit und fürchterlicher Rachlust. Soll es geschehen, soll sie zum äußersten Mittel greifen und die gemeinsamen Kinder töten? Am Ende des Melodrams steht die Antwort fest, es ist kein Happy End. Der antiken Maxime folgend entlässt der tragische Schluss auf der Bühne das Publikum von den Erregungszuständen geläutert wieder in die Wirklichkeit.

Gotter verfasste diesen Text, der im Druck mit dem Untertitel »ein mit Musik vermischtes Drama« erschien, im Jahr 1775. Gotter war seit 1772 herzoglicher Geheimsekretär in Gotha und unterhielt enge Kontakte zum Hoftheater. Sein Dienstherr, Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg, investierte viel Geld in sein Theater und engagierte unter anderem Conrad Ekhof, den »Vater der deutschen Schauspielkunst«, als Theaterdirektor. Von 1774 bis1777 wirkte die von Abel Seyler geleitete Schauspieltruppe in Gotha, nachdem sie zuvor in Hannover und Weimar große Erfolge gefeiert hatte. Hofkapellmeister war von 1770 bis 1778 Georg Anton Benda; auf ihn folgte Anton Schweitzer. Beide schufen in großem Stil musikdramatische Werke für den Gothaer Hof, die heute zwar mehrheitlich vergessen, bei den Reformern der deutschsprachigen Oper aber intensive Diskussionen auslösten. Medea blieb dabei als Melodram kein Einzelfall. Zu einem Text von Johann Christian Brandes komponierte Benda die Musik von Ariadne auf Naxos, Gotter lieferte zudem eine deutsche Übertragung von Jean-Jacques Rousseaus Pygmalion, einer mit »scène lyrique« überschriebenen Dichtung aus dem Jahr 1770, die sich als eigentlicher Gattungsprototyp des Melodram verstehen lässt.
Insbesondere Medea und Ariadne zogen ihre Kreise weit über Gotha hinaus. Allein von Medea wurde bis zum Jahr 1800 eine mittlere dreistellige Zahl von Aufführungen zwischen Odense im Norden, Mailand im Süden, Mannheim im Westen und Petersburg im Osten gezählt; die Statistik der Ariadne unterscheidet sich davon kaum. Ein zeitgenössischer Beobachter formulierte gar, »nun überschwemmten Melodramen die Welt«, und meinte das keineswegs negativ. In der Allgemeinen musikalischen Zeitung des Jahres 1806 liest man: »Diese beiden Stücke, vorzüglich die Medea, bleiben unsterblich, so lange echte Musik noch etwas gilt.«

Diese optimistische Aussage sollte sich, wie wir mit mehr als zwei Jahrhunderten Abstand feststellen können, nicht bewahrheiten. Doch die Zahl der Librettisten und Komponisten, die sich für Bendas Melodramen begeisterten – und sich auch daran abarbeiteten – ist schier unübersehbar. Dass Beethoven die Bendaschen Melodramen gekannt und bei der Komposition des Fidelio im Hinterkopf gehabt hat, wird vielleicht aufgrund der marginalen Funktion dieses Melodrams bei Beethoven übersehen. Dokumentiert ist jedoch die Begeisterung Wolfgang Amadeus Mozarts, der Aufführungen von Medea und Ariadne in Mannheim beiwohnte. Seinem Vater gegenüber bekundete Mozart im November 1778: »Was ich gesehen, war Medea von Benda. Er hat noch eine gemacht, Ariadne auf Naxos, beide wahrhaft fürtrefflich. […] Ich liebe diese zwey Wercke so, daß ich sie bey mir führe.« Ja, so Mozart, man solle sogar die Rezitative in der Oper grundsätzlich in dieser Weise setzen. Den Plan, dies in einer Oper namens Semiramide zu verwirklichen, hat Mozart dann freilich nicht mehr umgesetzt.

Im ersten Teil des Programms gehen dem Melodram Medea drei Orchesterwerke voran. Der Ouvertüre zu Händels Teseo aus dem Jahr 1712 folgt das rund zehnminütige Stück Five more steps until you fall asleep aus dem Jahr 2008 von Giorgios Koumendakis (*1959) in einer Einrichtung für ein barockes Kammerorchester. Koumendakis ist einer der profiliertesten Komponisten seiner Generation. Für sein Schaffen wurde er unter anderem mit dem Prix de Rome ausgezeichnet, einem seit 1663 verliehenen Kunstpreis, mit dem zuvor schon zahlreiche prominente Komponisten geehrt worden sind – so etwa Claude Debussy 1884. Einem weltweiten Publikum wurde Koumendakis bekannt, als er die Musik für die Eröffnungs- und die Abschlusszeremonie der olympischen Sommerspiele 2004 in Athen konzipierte und leitete. Von Giorgios Kouroupos (*1942) stammt das Lamento – Concerto grosso. Musikalisch inspiriert von Händels Concerti grossi vertont er hier drei pessimistische Gedichte des englischen Dichters William Blake (1757–1827) für Mezzosopran und Barockorchester. Mit seiner monologisch geprägten Haltung schlägt dieses 2013 uraufgeführte Werk einen weiteren Bogen zwischen Medea und der Gegenwart.


Andreas Waczkat

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